Fachliches

Philosophie: Systemisches Denken und Handeln

Was ist Ethik?

Ethik ist eine philosophische Disziplin, deren Aufgabe es nicht ist, eine bestimmte Moral zu entwickeln und dafür zu sorgen, dass diese auch befolgt wird, - d.h. auf der inhaltlichen Ebene Werturteile zu fällen. Ethik versucht Einsichten zu gewinnen, wie moralische Verbindlichkeit entsteht und in welcher Struktur sie erscheint.

Sichtweisen über Ethik sind abhängig von Erkenntnistheorie, Weltbild und Menschenbild.
  • Erkenntnistheorien betreffen auch die Sichtweisen darüber, ob und auf welche Weise, die Welt und damit auch das Gute/Böse/Wertvolle/Notwendige in ihr erkennbar ist oder nicht.
  • Weltbilder sind Sichtweisen über die Beschaffenheit der Welt und des Guten/Bösen/Wert-Vollen/Notwendigen in ihr. Sie sind Voraussetzungen dafür, die Welt so zu gestalten und zu verändern, dass sie einer Zielvorstellung darüber, wie sie sein soll, entspricht.
  • Menschenbilder lassen Sichtweisen darüber ableiten, ob und auf welche Weise der Mensch sich, andere, die Welt verändern kann oder nicht.

Systemisches Weltbild  - Konstruktivismus

Der dem systemischen Denken zugrunde liegende Konstruktivismus postuliert, dass die Welt und das, was in ihr wertvoll, gut, notwendig ist, nicht einfach erkennbar ist, da jeder Versuch, etwas darüber zu erfahren, zu lernen, das mitkonstruiert, was der Erkennende zu erkennen glaubt.

Ausgehend von dieser Position sind Weltbilder und Ziele prinzipiell immer nur eine Auswahl aus mehreren Möglichkeiten. Ein bestimmtes Weltbild, bestimmte Ziele können nicht unabhängig von dem gesehen werden, der sie entwirft oder anstrebt. Die Aufgabe des Menschen als Beobachter seiner eigenen kognitiven Prozesse besteht darin, einen Bezugsrahmen für sein Wertsystem auszuwählen.
Wichtigste ethische Konsequenz einer systemischen Sichtweise ist das Bewusstsein, beim Sprechen von Zielen und Wertvorstellungen immer auch zugleich eine Aussage über sich selbst zu treffen: „Das Beobachtete sagt mehr über den Beobachter als über das zu Beobachtende“.

Auch Systemiker haben Werte, Vorlieben und Vorurteile, Meinungen über andere Menschen und Vorstellungen über „richtiges“ Verhalten. Um „mehr-parteilich“ sein zu können, müssen sie aber willens sein, andere Meinungen und Bedeutungen gelten zu lassen, sich von alten Sichtweisen zu trennen.

Systemisches Menschenbild

Das Menschenbild eines systemischen Ansatzes versteht den Menschen als erlebende und bewältigende Person, die sich  ständig in kreativer Auseinandersetzung mit der Umgebung befindet – und dazu gehört auch die Gesellschaft – die sie genauso mitgestaltet, wie sie darauf reagiert.

Das wird besonders deutlich, wenn es um die Frage der „Normalität“ geht. Im systemischen Ansatz wird jedes als von der Norm sozialen Verhaltens, vom Üblichen abweichendes definierte Verhalten von Organismen als zielorientierte, aktiv kreative Leistung betrachtet, mit deren Hilfe sie sich an unterschiedliche Gegebenheiten anpassen.

Die Vorstellung, Menschen direkt beeinflussen und verändern zu können wird aufgegeben.
Veränderungen des Verhaltens und Denkens anderer Menschen sind hier vor allem durch Veränderung des eigenen Verhaltens und Denkens möglich: Nur indem wir selbst Veränderung wagen, ist es uns möglich, am gemeinsamen Gespräch teilzunehmen, aus dem sich neues Verständnis entwickeln kann.

Systemische Haltungen

- wie Neugier, Exploration, Suchen, Reflektieren – können verwendet werden um herauszufinden, was alles auch noch anders möglich sein könnte. Die Lust am Neuen, an dem „auch noch anders Verstehbaren“ am „Unausgesprochenen“ kann ein Mittel sein, die eigene Flexibilität zu erhalten sowie Weltbilder anzuwenden, weiterzuentwickeln, Ziele weiterzuverfolgen, zu verbessern, neue zu finden,…

Systemisch-konstruktivistische Haltungen betonen, wie wichtig es ist, unterschiedliche Sichtweisen wahrzunehmen und in ihrer prinzipiellen Berechtigung anzuerkennen. Auf diese Weise sind Achtung, Respekt und damit weiterführender Dialog und Veränderung möglich.

Wenn – neben aller Betonung des „Konstruierens“ der Wirklichkeit – die Möglichkeit des Vorhandenseins von „Gegebenem“ (etwa Geldprobleme, Wohnungsnot, Schmerz, Tod) ernst genommen wird, ist ein Abgleiten in Solipsismus oder Relativismus eigentlich nicht möglich.

Quelle: Ethik in systemisch-konstruktivistischer Sicht, Dialog 1/91